ZWANZIG REGELN FÜR DAS SCHREIBEN VON KRIMIS

Die Detektivgeschichte ist ein Spiel. Sie ist mehr - sie ist ein Sportereignis. Und der Autor muss mit dem Leser fair spielen. Er kann nicht mehr zu Tricks und Täuschungen greifen und trotzdem seine Ehrlichkeit bewahren, als wenn er bei einem Bridgespiel schummelt. Er muss den Leser überlisten und sein Interesse durch schieren Einfallsreichtum aufrechterhalten. Für das Schreiben von Kriminalromanen gibt es ganz bestimmte Gesetze - ungeschriebene vielleicht, aber nichtsdestoweniger verbindliche: und jeder respektable und sich selbst respektierende Erfinder literarischer Krimis hält sich an sie.

Hier ist also eine Art Credo, das teils auf der Praxis aller großen Geschichtenschreiber, teils auf den Eingebungen des inneren Gewissens des ehrlichen Autors beruht. Und zwar:

  1. Der Leser muss die gleiche Chance wie der Detektiv haben, das Rätsel zu lösen. Alle Anhaltspunkte müssen klar und deutlich genannt und beschrieben werden.
  2. Dem Leser dürfen keine vorsätzlichen Tricks oder Täuschungen vorgespielt werden, die nicht auch der Verbrecher dem Detektiv gegenüber rechtmäßig anwenden kann.
  3. Es darf keine Liebesbeziehung in der Geschichte vorkommen. Die Einführung einer Liebesbeziehung würde bedeuten, eine rein intellektuelle Erfahrung mit irrelevanten Gefühlen zu überfrachten. Es geht darum, einen Verbrecher vor Gericht zu bringen, nicht darum, ein verliebtes Paar vor den Traualtar zu führen.
  4. Der Detektiv selbst oder einer der offiziellen Ermittler sollte sich niemals als der Schuldige herausstellen. Das ist ein glatter Betrug, so als würde man jemandem einen blanken Penny für ein Fünf-Dollar-Goldstück anbieten. Es ist ein falscher Vorwand.
  5. Der Schuldige muss durch logische Schlussfolgerungen ermittelt werden - nicht durch Zufall oder unmotivierte Geständnisse. Ein kriminelles Problem auf diese Weise zu lösen, ist so, als würde man den Leser auf eine absichtliche Verfolgungsjagd schicken und ihm dann, nachdem er gescheitert ist, erzählen, dass man das Objekt seiner Suche die ganze Zeit im Ärmel hatte. Ein solcher Autor ist nicht besser als ein Scherzbold.
  6. Der Kriminalroman muss einen Detektiv enthalten, und ein Detektiv ist kein Detektiv, wenn er nicht detektiert. Seine Aufgabe ist es, Hinweise zu sammeln, die schließlich zu der Person führen, die im ersten Kapitel die Drecksarbeit gemacht hat; und wenn der Detektiv nicht durch eine Analyse dieser Hinweise zu seinen Schlussfolgerungen kommt, hat er sein Problem genauso wenig gelöst wie der Schuljunge, der seine Antwort aus der Rückseite des Rechenbuchs erhält.
  7. In einem Kriminalroman muss es einfach eine Leiche geben, und je toter die Leiche, desto besser. Kein geringeres Verbrechen als Mord reicht aus. Dreihundert Seiten sind viel zu viel Aufwand für ein anderes Verbrechen als Mord. Schließlich müssen die Mühe und der Energieaufwand des Lesers belohnt werden. Die Amerikaner sind im Grunde human, und deshalb weckt ein tipptopp begangener Mord ihre Rachegefühle und ihr Entsetzen. Sie wollen den Täter zur Rechenschaft ziehen, und wenn ein \"Mord, wie er im Buche steht\", begangen wurde, geht die Jagd mit dem ganzen rechtschaffenen Enthusiasmus weiter, dessen der dreimalige Leser fähig ist.
  8. Das Problem des Verbrechens muss mit streng naturalistischen Mitteln gelöst werden. Solche Methoden zur Wahrheitsfindung wie Schiefertafeln, Ouija-Tafeln, Gedankenlesen, spiritistische Séancen, Kristallschauen und dergleichen sind tabu. Ein Leser hat eine Chance, wenn er sich mit einem rationalistischen Detektiv misst, aber wenn er sich mit der Welt der Geister messen und in die vierte Dimension der Metaphysik vordringen muss, ist er von vornherein besiegt.
  9. Es darf nur einen Detektiv geben, das heißt, nur einen Protagonisten der Deduktion, einen deus ex machine. Wenn man die Gedanken von drei oder vier oder manchmal einer ganzen Bande von Detektiven auf ein Problem anwendet, wird nicht nur das Interesse zerstreut und der direkte Faden der Logik unterbrochen, sondern auch der Leser in unfairer Weise ausgenutzt, der von Anfang an seinen Verstand gegen den des Detektivs stellt und sich einen geistigen Kampf liefert. Wenn es mehr als einen Detektiv gibt, weiß der Leser nicht, wer sein Co-Detektiv ist. Es ist, als würde man den Leser ein Rennen mit einer Staffel laufen lassen.
  10. Der Täter muss eine Person sein, die in der Geschichte eine mehr oder weniger große Rolle spielt, d. h. eine Person, die dem Leser bekannt ist und für die er sich interessiert. Wenn ein Autor das Verbrechen im letzten Kapitel an einem Fremden oder einer Person festmacht, die in der Geschichte eine völlig unwichtige Rolle gespielt hat, gesteht er damit seine Unfähigkeit ein, sich mit dem Leser zu messen.
  11. Diener - wie Butler, Lakaien, Kammerdiener, Wildhüter, Köche und dergleichen - dürfen vom Autor nicht als Schuldige ausgewählt werden. Das ist eine edle Frage. Es ist eine zu einfache Lösung. Sie ist unbefriedigend und gibt dem Leser das Gefühl, seine Zeit verschwendet zu haben. Der Täter muss eine Person sein, die es wert ist, dass man sie verdächtigt, denn wenn das Verbrechen das schmutzige Werk eines Handlangers wäre, hätte der Autor nicht die Aufgabe, es in Buchform zu bringen.
  12. Es darf nur einen Schuldigen geben, egal wie viele Morde begangen werden. Der Täter kann natürlich einen kleinen Helfer oder Mitwisser haben, aber die ganze Last muss auf einem Paar Schultern ruhen: Die ganze Empörung des Lesers muss sich auf eine einzige schwarze Natur konzentrieren können.
  13. Geheimbünde, Camorras, Mafias usw. haben in einem Kriminalroman nichts zu suchen. Hier gerät der Autor in den Bereich des Abenteuerromans und der Geheimdienstromantik. Ein faszinierender und wirklich schöner Mord wird durch eine solche Pauschalschuld unwiederbringlich verdorben. Sicherlich sollte man dem Mörder in einem Kriminalroman eine sportliche Chance geben, aber es geht zu weit, ihm einen Geheimbund (mit seinen allgegenwärtigen Zufluchtsorten, Massenschutz usw.) zuzugestehen, auf den er zurückgreifen kann. Kein Mörder von Rang und Namen, der etwas auf sich hält, würde sich solche Chancen in seinem Wettstreit mit der Polizei wünschen.
  14. Die Methode des Mordes und die Mittel zu seiner Aufdeckung müssen rational und wissenschaftlich sein. Das heißt, dass Pseudowissenschaft und rein phantasievolle und spekulative Mittel im Detektivroman nicht geduldet werden dürfen. So ist beispielsweise die Ermordung eines Opfers durch ein neu entdecktes Element - sagen wir ein Superradium - kein legitimes Problem. Auch eine seltene und unbekannte Droge, die nur in der Phantasie des Autors existiert, darf nicht verabreicht werden. Ein Krimiautor muss sich, toxikologisch gesehen, auf das Arzneibuch beschränken. Sobald sich ein Autor in das Reich der Phantasie begibt, wie es Jules Verne getan hat, verlässt er die Grenzen des Kriminalromans und tummelt sich in den unerforschten Weiten des Abenteuers.
  15. Die Wahrheit des Problems muss jederzeit offensichtlich sein - vorausgesetzt, der Leser ist klug genug, sie zu erkennen. Damit meine ich, dass der Leser, nachdem er die Erklärung für das Verbrechen erfahren hat, das Buch noch einmal lesen würde, um zu sehen, dass die Lösung ihm gewissermaßen ins Gesicht gestarrt hat - dass alle Hinweise wirklich auf den Täter hinweisen - und dass er, wenn er so klug wie der Detektiv gewesen wäre, das Rätsel selbst hätte lösen können, ohne zum letzten Kapitel überzugehen. Dass der kluge Leser auf diese Weise oft das Problem löst, versteht sich von selbst. Und eine meiner grundlegenden Theorien über Krimis ist, dass es unmöglich ist, allen Lesern die Lösung vorzuenthalten, wenn ein Krimi fair und legitim aufgebaut ist. Es wird unweigerlich eine gewisse Anzahl von Lesern geben, die ebenso scharfsinnig sind wie der Autor; und wenn der Autor bei der Darstellung des Verbrechens und der Hinweise die nötige Sportlichkeit und Ehrlichkeit an den Tag gelegt hat, werden diese scharfsinnigen Leser in der Lage sein, durch Analyse, Eliminierung und Logik dem Täter auf die Schliche zu kommen, sobald der Detektiv es tut. Und darin liegt der Reiz des Spiels. Hierin liegt eine Erklärung für die Tatsache, dass Leser, die den gewöhnlichen \"populären\" Roman verschmähen würden, Krimis ohne Scheu lesen.
  16. Ein Kriminalroman sollte keine langen beschreibenden Passagen enthalten, kein literarisches Herumtrödeln mit Nebensächlichkeiten, keine subtil ausgearbeiteten Charakteranalysen, keine "atmosphärischen" Beschäftigungen. Solche Dinge haben in einem Kriminalroman keinen wichtigen Platz. Sie halten die Handlung auf und führen Themen ein, die für den Hauptzweck irrelevant sind, der darin besteht, ein Problem darzulegen, es zu analysieren und zu einem erfolgreichen Abschluss zu bringen. Sicherlich muss es genügend Beschreibungen und Charakterdarstellungen geben, um dem Roman Realitätsnähe zu verleihen; aber wenn der Autor eines Kriminalromans den literarischen Punkt erreicht hat, an dem er einen fesselnden Realitätssinn geschaffen und das Interesse und die Sympathie des Lesers für die Figuren und das Problem gewonnen hat, ist er in der rein "literarischen" Technik so weit gegangen, wie es legitim und mit den Erfordernissen eines Dokuments über ein Kriminalproblem vereinbar ist. Ein Kriminalroman ist eine düstere Angelegenheit, und der Leser geht nicht wegen der literarischen Ausschmückung, des Stils, der schönen Beschreibungen und der Projektion von Stimmungen zu ihm, sondern um sich geistig anzuregen und intellektuell zu betätigen - so wie er zu einem Ballspiel oder einem Kreuzworträtsel geht. Vorlesungen über die Schönheiten der Natur zwischen den Innings auf den Polo Grounds würden das Interesse am Kampf zwischen zwei konkurrierenden Baseballteams kaum steigern; und Dissertationen über Etymologie und Rechtschreibung, die in die Definitionen eines Kreuzworträtsels eingestreut sind, würden den Löser nur irritieren, der darauf bedacht ist, die Wörter richtig ineinandergreifen zu lassen.
  17. Ein Berufsverbrecher darf in einem Krimi niemals die Schuld an einem Verbrechen auf sich nehmen. Verbrechen von Einbrechern und Banditen sind Sache der Polizei, nicht der Autoren und brillanten Amateurdetektive. Solche Verbrechen gehören zur Routinearbeit der Mordkommissionen. Ein wirklich faszinierendes Verbrechen wird von einer Säule einer Kirche oder einer für ihre Wohltätigkeit bekannten Jungfer begangen.
  18. Ein Verbrechen in einem Kriminalroman darf sich niemals als Unfall oder Selbstmord herausstellen. Eine Odyssee von Detektiven mit einem solchen Anti-Klimax (Klimax =Die Klimax (von altgriech. »klimax« = Leiter) ist ein rhetorisches Stilmittel der Steigerung. In mehreren (meist drei) Stufen werden Wörter, Wortgefüge oder Satzteile aneinandergereiht und bewegen sich dabei von einem schwachen Ausdruck über einen stärkeren zum stärksten. Der letzte Begriff der Reihung stellt also ihren ...) zu beenden, bedeutet, dem Leser einen unverzeihlichen Streich zu spielen. Sollte ein Buchkäufer seine zwei Dollar zurückverlangen, weil das Verbrechen eine Fälschung war, würde jedes Gericht mit Gerechtigkeitssinn zu seinen Gunsten entscheiden und dem Autor, der auf diese Weise einen vertrauensvollen und gutherzigen Leser getäuscht hat, einen scharfen Verweis erteilen.
  19. Die Motive für alle Verbrechen in Krimis sollten persönlich sein. Internationale Verschwörungen und Kriegspolitik gehören in eine andere Kategorie der Fiktion - zum Beispiel in Geheimdienstgeschichten. Aber eine Kriminalgeschichte muss sozusagen gemütlich gehalten sein. Sie muss die Alltagserfahrungen des Lesers widerspiegeln und ihm ein gewisses Ventil für seine eigenen unterdrückten Wünsche und Gefühle bieten.
  20. Und (um meinem Credo eine gleichmäßige Punktzahl zu geben) zähle ich hiermit einige der Mittel auf, derer sich kein anständiger Krimiautor mehr bedienen wird. Sie wurden schon zu oft verwendet und sind allen wahren Liebhabern des literarischen Verbrechens vertraut. Sie zu verwenden, ist ein Eingeständnis der Unfähigkeit und des Mangels an Originalität des Autors.

(a) Die Feststellung der Identität des Täters durch den Vergleich eines am Tatort zurückgelassenen Zigarettenstummels mit der von einem Verdächtigen gerauchten Marke.

(b) Die gefälschte spiritistische Séance, um den Täter zu erschrecken, damit er sich verrät.

(c) Gefälschte Fingerabdrücke.

(d) Das Alibi mit Scheinfiguren.

(e) Der Hund, der nicht bellt und damit verrät, dass der Eindringling bekannt ist.

(f) Die endgültige Zuordnung des Verbrechens zu einem Zwilling oder einem Verwandten, der genauso aussieht wie die verdächtige, aber unschuldige Person.

(g) Die Injektionsspritze und die K.O.-Tropfen.

(h) Die Begehung des Mordes in einem verschlossenen Raum, nachdem die Polizei tatsächlich eingebrochen ist.

(i) Der Wortassoziationstest zur Feststellung der Schuld.

(j) Die Chiffre oder der Code-Buchstabe, der schließlich vom Detektiv entschlüsselt wird.